„K4?“ Ein Berg im Himalaja, besser bekannt unter dem Namen Gasherbrum II. Gleichzeitig ist dies aber auch der Kosename, den das Volk von Bhutan seinem 4. König Jigme Wangchuck verlieh, welcher das Land von 1972 bis zu seiner Abdankung zugunsten seines ältesten Sohnes, des derzeitigen 5. Königs von Bhutan, im Jahr 2005 regierte. König Jigme Wangchuck gilt als der Vater der Entwicklungsphilosophie des Bruttonationalglücks (BNG).
Bhutan ist ein kleines Land im östlichen Himalaja, so gross wie die Schweiz und eingezwängt zwischen Indien und China. Es hat weniger als 800’000 Einwohner und ist eines der wenigen vorwiegend buddhistischen Länder, die niemals kolonialisiert wurden.
Seine Majestät Jigme Wangchuck war 17, als er der 4. König von Bhutan wurde. Während seiner ersten Reise nach Indien im Jahr 1972 wurde er von einem britischen Journalisten der Financial Times gefragt, wie hoch das Bruttoinlandsprodukt (BIP) von Bhutan sei. Er antwortete mit dem berühmt gewordenen Satz: „Wichtiger als das Bruttoinlandsprodukt (BIP) ist das Bruttonationalglück (BNG)“. Seine Antwort impliziert, dass eine nachhaltige Entwicklung den Begriff Fortschritt mit einem ganzheitlichen Ansatz zu erfassen sucht und nicht wirtschaftlichen Aspekten des Wohlergehens eine gleichrangige Bedeutung beimisst. Zwar glauben viele, dass hier der Gedanke des BNG entstand, doch möglicherweise wurde er bereits früher geäussert, wie etwa im Gesetzbuch von Bhutan aus dem Jahr 1629, wo es heisst:
“Wenn die Regierung nicht in der Lage ist, Glück für ihr Volk zu schaffen, dann hat sie kein Daseinsrecht.”
Bhutan ist nicht das fiktionale, mystische, harmonische Tal von „Shangri-La“ oder das Land des Glücks, als das es im Westen manchmal gilt. Und die Einwohner von Bhutan sind auch nicht das glücklichste Volk der Erde. Bhutan mag das einzige Land mit einer negativen Kohlenstoffbilanz sein, aber es hat eine Reihe anderer Probleme – etwa Armut, steigende Arbeitslosenzahlen, noch nie dagewesen Scheidungsquoten, häusliche Gewalt und Drogenmissbrauch. Doch Bhutan verfolgt einen Entwicklungsansatz, der in erster Linie auf das Glück der Menschen abzielt.
“Das BNG ist ein Ziel, eine Reihe von Prinzipien, die uns auf unserem Weg hin zu einer nachhaltigen und gerechten Gesellschaft leiten. Es ist unser Polarstern.”
– Thakur Singh Powdyel
Meilensteine des BNG:
- 1975 wurde das BNG vom 4. König zur Entwicklungsphilosophie für Bhutan erklärt.
- Zum neuen Jahrtausend setzte als Reaktion auf die weltweite Aufmerksamkeit, welche der Philosophie des BNG zuteilwurde, die Entwicklung von quantifizierbaren BNG-Instrumenten ein.
- 2008 wurden ein BNG-Bewertungsinstrument, mit dem alle Entwicklungsmassnahmen und -projekte unter dem Aspekt des BNG geprüft werden sollten, und der BNG-Index für regelmässige Messungen des Wohlergehens der bhutanischen Bevölkerung eingeführt.
- Im selben Jahr wurde per Volksabstimmung die erste schriftlich niedergelegte Verfassung des Staates Bhutan angenommen, deren Artikel 9 eine Fortführung der Philosophie des BNG garantiert: „Der Staat ist bestrebt, solche Bedingungen zu realisieren, die dem Bruttonationalglück förderlich sind.“ Mit der Krönung des 5. Königs wurde Bhutan eine konstitutionelle Monarchie, und es fanden die ersten allgemeinen Wahlen statt.
Unter dem ersten gewählten Ministerpräsidenten Jigme Yoser Thinley (2008–2013) rückte das BNG in den Blickpunkt der Weltöffentlichkeit:
- 2011 verabschiedeten die Vereinten Nationen eine von Bhutan eingebrachte Resolution der Generalversammlung, die einen „ganzheitlichen Ansatz bei der Entwicklung“ forderte, welcher die Voraussetzungen für nachhaltiges Glück und Wohlergehen schaffen sollte.
- 2012 fand im Hauptquartier der Vereinten Nationen in New York ein von der königlichen Regierung Bhutans ausgerichtetes hochrangiges Treffen statt, das der weiteren Verbreitung der bhutanischen BNG-Philosophie dienen sollte und folgenden Titel trug: „Happiness and Well-being: Defining a New Economic Paradigm“ („Glück und Wohlbefinden: Definition eines neuen ökonomischen Paradigmas“).
Unter dem zweiten gewählten Ministerpräsidenten Tshering Tobgay (2013–2018) rückte beim BNG wieder Bhutan in den Brennpunkt, da die Aufgabe der Regierung seinen Worten nach darin bestand, „die Prinzipien des BNG im eigenen Land umzusetzen“.
- Der Ministerpräsident suchte nach Wegen, um die lokale Wettbewerbsfähigkeit zu stärken und mehr ausländische Direktinvestitionen ins Land zu holen, ohne dadurch das BNG zu beeinträchtigen: „Für Geschäftsaktivitäten in Bhutan gibt es eine Bedingung: Die Unternehmen müssen das BNG sehr ernst nehmen.“
- 2015 begann die Entwicklung eines BNG-Bewertungsinstruments für Unternehmen, das diese in Einklang mit dem BNG bringen soll. 2018 wurde mit dem BNG-Zertifizierungsbericht eine methodische Grundlage geschaffen, um die soziale Performance von Unternehmen zu bewerten und Firmen dabei zu unterstützen, ein Bewusstsein für die BNG-Werte zu schaffen und sie sich zu eigen zu machen.
* Thakur Singh Powdyel, ehemaliger Bildungsminister von Bhutan und aktueller Präsident der Royalen Hochschule Thimphu in Bhutan