Unsere interkulturelle Kompetenz entwickeln
Kulturspezifische Werte und Bedürfnisse der internationalen Märkte sowie der Kundschaft und der Kollegen zu verstehen, ist zu einer wichtigen Standardanforderung für Führungskräfte und Geschäftsmänner/frauen geworden, die in einem internationalen Umfeld tätig sind.
Und aus diesem Grund ist die Weiterentwicklung der eigenen interkulturellen Kompetenz unerlässlich. Interkulturelle Kompetenz lässt sich als Gruppe von Fähigkeiten definieren, die man braucht, um in interkulturellen Situationen effektiv und angemessen kommunizieren und interagieren zu können. Die Entwicklung dieser Fähigkeiten ist ein lebenslanger Prozess, der Motivation, Zeit und Einsatz erfordert. Ausserdem reichen Erfahrungen im Ausland allein nicht aus. Vielmehr müssen wir ständig und intensiv über unsere internationalen Erfahrungen sowie unsere eigene Kultur reflektieren.
Setze nichts voraus, sondern achte auf gute Absichten
Es war ein sonniger und heisser Samstag. Zehn Minuten vor dem für 9 Uhr angesetzten Treffen mit dem Gouverneur des Bezirks Dhi Qar erreichten mein Übersetzer Malik und ich die Stadt Nasiriyah im Südost-Irak. Die Zeit verging und wir warteten: bis 9 Uhr, 9:15 Uhr, 9:30 Uhr, 10 Uhr, 10:30 Uhr …Schliesslich traf der Gouverneur um 11 Uhr endlich ein. Ich dachte, er würde mich begrüssen und sich für die Verspätung entschuldigen. Stattdessen plauderte er mit einer Gruppe von zwölf Männern, die ebenfalls auf ihn gewartet hatten. Als uns der Gouverneur endlich in sein Sitzungszimmer bat, war es bereits 11:30 Uhr. Zu meiner Überraschung waren die zwölf Männer ebenfalls anwesend. Führen Sie sich dieses Bild vor Augen: Ich als einzige Frau in einer grossen Männerrunde.
Der Gouverneur bat darum, dass Kaffee serviert würde. Ein Junge kam mit einem wundervoll verzierten dallah (einer traditionell arabischen Kaffeekanne) herein und goss qahwa (arabischen Kaffee) in kleine weisse Tassen. So weit so gut, abgesehen davon, dass gar kein Kaffee herauskam. Nicht ein einziger Tropfen! Und trotzdem gaben wir alle vor, Kaffee zu trinken. Ich nahm an, dass man mir auf diese Weise zeigen wollte, als Frau nicht willkommen zu sein, und wollte sodann den Raum verlassen. Malik schaute jedoch zu mir rüber und flüsterte: „Bleib,wo du bist und lächle.“ (Fortsetzung folgt …).
Arbeiten in einer globalen Welt
In einer globalen Welt zu arbeiten bedeutet manchmal, mit sehr unterschiedlichenVerhaltensweisen konfrontiert zu werden. Verschiedene Verhaltensweisen, die wir manchmal nur schwer verstehen können und die wir möglicherweise als „nicht normal“, „unangemessen“ und „unhöflich“ betrachten. Und wir sind uns nicht unbedingt bewusst, dass andere unsere eigene Verhaltensweise ebenfalls als nicht normal und unangemessen empfinden könnten.
- Eine erste goldene Regel für die Arbeit in einer globalen Welt lautet, dass man nichts persönlich nehmen sollte.
- Anschliessend sollte man versuchen, die gute Absicht hinter dem Verhalten der Menschen, mit denen du arbeitest, zu entdecken. Schliesslich gibt es wahrscheinlich einen guten Grund, weshalb sie so handeln, wie sie handeln.
- In der Interaktion mit anderenist es schliesslich hilfreich, die eigenen interkulturellen Kompetenzen bewusst weiterzuentwickeln, um flexibler, beweglicher, kreativer underfolgreicher zu werden.
“Alles zu verstehen bedeutet, alles zu vergeben.”
– Madame de Staël
Im Irak, wie in den meisten arabischen Gesellschaften, ist das Servieren von Kaffee ein wichtiger Aspekt der Gastfreundschaft. Es wird als wesentlicher zeremonieller Akt der Grosszügigkeit erachtet. Als Gegenzug wird vom Gast erwartet, mindestens eine Tasse zu trinken, was die Annahme der Gastfreundschaft symbolisiert.
Das Treffen mit dem Gouverneur fand statt, als ein Embargo gegen den Irak in Kraft und Kaffee daher nicht verfügbar war. Da ich vom Gouverneur als VIP betrachtet wurde, wäre es als respektlos erachtet worden, mir Tee oder irgendetwas anderes als Kaffee zu servieren. So war es viel höflicher, diesen Akt der Gastfreundschaft vorzuführen, obwohl sie gar keinen Kaffee anzubieten hatten.
Über sich selbst lernen, indem man über andere lernt
Sechs Monate nach dieser „Kaffeezeremonie“ war ich wieder im Irak und freute mich, wieder mit Malik zusammenzuarbeiten. Während der Fahrt durch Nasiriyah auf dem Weg nach Basra schlug Malikvor, beim Haus des Gouverneurs auf einen Kaffee vorbeizuschauen.
- Als Schweizerin bin ich es so gewohnt, dass man Termine stets vorher abspricht und nicht unangemeldet aufkreuzt – vor allem nicht bei hochrangigen Persönlichkeiten.
Nach langem Diskutieren liess ich dann doch nach. Wir hielten also am Haus des Gouverneurs an, wo man uns mitteilte, dass sich dieser gerade in einer Sitzung mit sechzig der Gemeindeältesten befände.
- In der Schweiz hinterlässt man bei einem spontanen Besuch, wenn die Person gerade keine Zeit hat, eine Nachricht und verabschiedet sich wieder.
Der Assistent des Gouverneurs bestand darauf, dass wir warteten, während er den Gouverneur über unseren spontanen Besuch informierte. Nach zehn Minuten kam der Assistent mit dem Gouverneur zurück, der sich ganze 15 Minuten lang mit uns unterhielt.
Was hatte sich also zwischen dem ersten Treffen, als mich der Gouverneur mehr als zwei Stunden warten liess, und dieser zweiten Begegnung, bei der er eine wichtige Sitzung verliess, um mich zu begrüssen, geändert?
Der Unterschied lag darin, dass wir beim ersten Treffen zusammen Kaffee getrunken und so eine professionelle Beziehung begründet hatten.
“Jedes Mal, wenn ich auf Reisen bin, gewinnt die Erfahrung erst dann an Bedeutung und setzt sich in mir fest, wenn ich zu Hause bin, still sitze und anfange, das Gesehene in dauerhafte Erkenntnis umzuwandeln.”
– Pico Iyer
Deine Präferenzen? Fragen an dich, lieber Leser:
Würdest du mich zwei Stunden warten lassen,wenn wir uns auf eine feste Uhrzeit für ein erstes Treffen geeinigt hätten? Würdest du dir 15 Minuten Zeit nehmen für mich, wenn ich unangemeldet auftauchen würde und du gerade in einer wichtigen Sitzung wärst? Es gibt keine richtige oder falsche Antwort. Wir handeln einfach aufgrund unterschiedlicher Annahmen und Wertevorstellungen.
- In der Schweiz leben wir in der Regel nach der Uhr. Es gilt als gesellschaftlich verantwortungsbewusst, Termine einzuhalten. Im Irak sind Pläne in der Regel jedoch weniger starr, und hier wird allgemein das Pflegen von menschlichen Beziehungen als gesellschaftlich verantwortungsbewusst angesehen.
Einer der wertvollsten Aspekte meines Berufs ist die Arbeit mit Kunden und Trainees aus aller Welt undaus den verschiedensten Kulturen in der Schweiz. Es vergeht kein Tag, an dem ich nicht etwas Neues über mich selbst lerne und mein Verständnis für andere Kulturen (und die Gründe für ihr Verhalten) vertiefe. Dies führt mir vor Augen, wie bereichernd und kreativ es sein kann, aus verschiedenen Standpunkten auf die Dinge zu blicken.
→ Die Entwicklung interkultureller Kompetenz ist für all jene relevant, die in einem multikulturellen Umfeld arbeiten, ganz gleich ob im In- oder Ausland. Das ist auch dann wichtig, wenn man als Teil eines multikulturellen Teams arbeitet, ein globales Team leitet, mit internationalen Kunden oder Lieferanten zusammenarbeitet oder geschäftlichins Ausland reist.
* Pico Iyer (Siddharth Pico Raghavan Iyer, in 1957 geboren), britischer Reiseautor indischer Abstammung, „Die Kunst des Innehaltens: Ein Plädoyer für Entschleunigung“
* Madame de Staël (Anne-Louise-Germaine Necker, Baronin von Staël-Holstein, 1766– 1817), aus der Republik Genf stammende französische Schriftstellerin